
Geboren in Bonn und heute in Dresden lebend konstatierte er: „Es gibt noch zu oft so etwas wie eine Belehrungsattitüde West, also eine Art Selbstermächtigung, die Entwicklung und die Haltung und das Wahlverhalten der Ostdeutschen zu bewerten. Viele Westdeutsche erwarten irgendwie, dass die Ostdeutschen so werden wie sie.“ Auf der anderen Seite gebe es bis heute ein faktisches Unterlegenheitsgefühl bei vielen Menschen in den ostdeutschen Ländern – auch wenn es unberechtigt sei. Die Forderung von de Maizière: „Beides: Belehrungsattitüde und Bürger-2.-Klasse-Komplex müssen schleunigst überwunden werden.“
Stuttgarts Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper hatte mit dem CDU-Politiker Thomas de Maizière einen Festredner gewonnen, der sich schon allein wegen seiner Biographie so sehr auszeichnet als Festredner für diesen Tag wie nur wenige andere: einen Politiker mit deutsch-deutscher Familiengeschichte, der auf DDR-Seite den deutsch-deutschen Einigungsvertrag mit verhandelte – damals als Berater seines Cousins und letzten Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Maizière. Hohe politische Ämter übernahm er danach selbst und war schließlich als Bundesinnenminister zugleich auch Ostbeauftragter der Bundesregierung.
Nopper erinnerte in seiner Begrüßung an den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Dieser habe mit unbändiger Willenskraft die Weichen für die überraschend schnelle Einigung der deutschen Einheit richtig gestellt. „Es wird deswegen allerhöchste Zeit, Helmut Kohl für diese historische Großtat auch in Stuttgart zu würdigen. Nach meiner Überzeugung sollte auch in der Landeshauptstadt Stuttgart eine Allee, eine Straße oder ein Platz nach dem Kanzler der Einheit benannt werden. Ich werde dies dem Gemeinderat baldmöglichst vorschlagen.“
De Maizière betonte, die deutsche Einheit sei das Lebensthema für ihn persönlich und für seine Familie. Sie bleibe für ihn ein „Glücksfall der Geschichte“. Die innere Einheit sei allerdings nicht vollendet. Er wisse auch gar nicht, was „innere Einheit“ eigentlich sei. „Sollen wir alle das Gleiche denken und fühlen? Geht es hier um irgendwelche gleichen Befindlichkeiten? Passt so etwas wie innere Einheit überhaupt zu unserer föderalen Geschichte?“ De Maizière führte eine Reihe von Begrifflichkeiten auf, die nach seiner Einschätzung „gut gemeint waren, aber eine verheerende psychologische Wirkung hatten“: die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ („gemeint war natürlich die Gleichwertigkeit“), den Begriff der „Warteschleife“, der nur die kommende Arbeitslosigkeit verschleiert habe, oder den Begriff „Abwicklung“ für die ersatzlose Schließung von Betrieben.
Systematisch betrachtete de Maizière eine Reihe von Zahlen, um darzustellen, wie groß der Unterschied zwischen West und Ost noch immer sei. Grundsätzlich gehe es den Menschen im Osten nicht mehr schlechter als im Westen. So hätten die Frauen wegen ihrer längeren Berufstätigkeit etwa im Durchschnitt die höhere Rente. Und ein Lohngefälle gebe es nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen einem Kfz-Mechaniker in München und einem im Bayerischen Wald. Außerdem seien die Lebenshaltungskosten, insbesondere die Kosten der Wohnungen in den ostdeutschen Ländern niedriger als im Westen.
De Maizière verwies allerdings auf einen bis heute sehr relevanten Unterschied: „Ein wirklich erheblicher Unterschied ist und bleibt auf lange Zeit die Lage der Vermögen. Kaum jemand hat im Osten wirklich viel geerbt und es steht auch nicht in Aussicht. Das Vermögen der Ostdeutschen liegt im Durchschnitt weniger als 50 Prozent des westdeutschen Durchschnitts. Die Steuereinnahmen der Erbschaftsteuer liegen in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 18 und 26 Millionen Euro, in Bayern zwischen 2,4 und 3,3 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis von Geschichte. Und das ist durch kein staatliches Förderprogramm kurzfristig zu ändern. Aber es schmerzt viele. Und das muss man mindestens wissen.“
Es gebe auch andere tatsächliche Unterschiede, etwa die „ostdeutsche Veränderungsmüdigkeit bis hin zur Veränderungsablehnung oder Veränderungswut“. Viele Transformationen seien insgesamt gut bewältigt worden, aber nun würden im Zusammenhang mit Globalisierung, IT und Künstlicher Intelligenz andere Transformationsleistungen eingefordert. „Da sagen viele: Jetzt ist Schluss.“ Grundsätzlich gebe es in den ostdeutschen Bundesländern eine stärkere Kritik an Modernisierung schlechthin. „Das hat mit dem Sprachgebrauch zu tun, mit Anglizismen, mit Moden, mit Wichtigtuereien, mit mehr Schein als Sein. Und es gibt eine große Empfindlichkeit, wenn die Politik in das private Leben eingreift: beim Thema Impfen, bei Essgewohnheiten, beim Heizen, beim Autofahren usw.“ Das gebe es natürlich auch in den westdeutschen Bundesländern, aber die Empfindlichkeit, die Verletzlichkeit sei im Osten aus verständlichen Gründen größer.
Im Osten stehe allerdings eine neue Generation in den Startlöchtern, auf die er sich sehr freue – die sogenannte dritte Generation: die erste, die noch in der DDR sozialisiert, aber im vereinten Deutschland ausgebildet wurde und das Erwachsenwerden erlebt. „Das ist eine zunehmend selbstbewusste Generation. Sie besetzt nach und nach Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie ist stolz darauf, sich als ostdeutsch zu bezeichnen, aber das ist nicht spalterisch oder abgrenzend gemeint. Sie fordert nicht Augenhöhe ein, sondern lebt sie.“
Abschließend forderte Thomas de Maizière, die Deutsche Einheit dankbar und auch ein bisschen stolz zu feiern, sich durchaus der Geschichte und der Entwicklung seitdem zu stellen, sich aber den Themen der Zukunft zuzuwenden. „Das sind keine deutsch-deutschen Themen mehr, aber Zukunftsthemen für unser Land.“ Die Punkte, die er nannte:
- eine große Staatsreform für einen handlungsfähigen Staat (dafür hat de Maizière gemeinsam mit Peer Steinbrück, Andreas Voßkuhle und Julia Jäkel in der „Initiative für einen handlungfähigen Staat“ 35 Empfehlungen erarbeitet)
- die Konsequenzen der neuen Sicherheitslage in Europa und der Welt
- die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft m europäischen und internationalen Wettbewerb
- die Migration mit ihren Folgen, Grenzen und Chancen
- die Folgen der Demographie für die Sozialsysteme
- die Notwendigkeit, im Bereich der Bildung wieder auf einen Spitzenplatz zu gelangen
- die Debatten um die rechtspopulistische Versuchung in der ganzen Welt
OB Frank Nopper hatte – auch mit Blick auf seine eigene Stadt – in seiner Ansprache betont, „dass wir nur dann Menschen in Deutschland integrieren können, dass wir nur dann Menschen für Deutschland gewinnen können, wenn wir selbst unser Land lieben – mit allem Licht und Schatten.“ Er warb für ein unverkrampftes Verhältnis zu Deutschland und betonte, sich abgrenzend von der Antwort eines führenden Bundespolitikers in einem Sommerinterview: „Ich liebe dieses Land, seine Menschen, seine Kultur, sein Wertefundament. Wir haben allen Anlass, unser Land zu lieben – nicht im Geiste eines abgrenzenden und feindseligen Nationalismus, sondern im Geiste eines aufgeklärten und völkerverbindenden Patriotismus.“
In diesem Sinne wurde die diesjährige Feierstunde am Tag der deutschen Einheit im Stuttgarter Rathaus auch musikalisch umrahmt: durch das Blasorchester „Brass Feuerwe(h)rk“ der Freiwilligen Feuerwehr Stuttgart-Wangen und den indischstämmigen Tenor Frazan Adil Kotwal, der vor einem Jahr die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat und die Nationalhymne intonierte. Beim anschließenden Empfang gab es Spezialitäten aus dem Saarland, das in diesem Jahr die zentrale Feier zum Tag der deutschen Einheit ausrichtete.