Landeshauptstadt Stuttgart verleiht Hegel-Preis 2024 an Professor Dr. Orlando Patterson

Die Jury hat ihre Entscheidung am 19. Juni 2024 mit der folgenden Begründung getroffen: Orlando Patterson ist Professor für Soziologie an der renommierten Harvard University in den USA. In den Vereinigten Staaten, aber auch weit darüber hinaus, ist Patterson einer der wichtigsten wissenschaftlichen Kommentatoren politischer und sozialer Verhältnisse, welche im Zusammenhang mit strukturellem Rassismus stehen.

Das zentrale Thema seiner Forschungen ist die Sklaverei, wobei er sich sowohl mit der Geschichte derselben als auch deren Bedeutung für die Gegenwart intensiv auseinandersetzt. Patterson fragt vor allem nach der „Soziologie“ der Sklaverei und meint damit nicht nur Werte, Überzeugungen und symbolische Darstellungen, sondern auch die Praktiken, den Habitus und solche Einstellungen, die die Grundlage und Wirklichkeit von Institutionen bestimmen. Damit kommt Pattersons Verständnis von Soziologie oder „culture“, wie er es ausdrückt, dem Hegel‘schen Begriff der Sittlichkeit sehr nahe. Ganz im Hegel‘schen Sinne fragt Patterson nach der Sklaverei als kulturelle Praxis und den Bedingungen ihrer ständigen Reproduktion.

Dieses Interesse zeigt exemplarisch und eindrucksvoll das bedeutende Werk Pattersons, ohne das die gegenwärtigen Diskussionen über Postkolonialismus, strukturellen Rassismus und postabolitionistische Verhältnisse nicht denkbar sind: „Slavery and Social Death. A Comparative Study“. Patterson sagt 1982 in diesem Buch, dass ein versklavter Mensch „sozial tot“ ist, dass er keine Existenz in der sozialen Wirklichkeit als eine symbolische normative Ordnung hat. Dieser soziale Tod kann als Radikalisierung und Vertiefung von Hegels Analyse von Verhältnissen der Nicht-Anerkennung verstanden werden.

Mit Hegel verbindet Patterson auch das Interesse an der Freiheit, wobei Patterson die Frage aufwirft, inwieweit die Freiheit nur aus der Erfahrung ihrer Negation – der Sklaverei – geboren wurde. Diese These entfaltet Patterson in seinem zweiten großen Werk: Freedom (1991). Demnach ist Freiheit nicht gegeben oder gar eine natürliche Eigenschaft des Menschen. Ganz hegelianisch wird Freiheit bei Patterson zum kollektiven, geteilten Bewusstsein der (unendlichen) Wichtigkeit der Freiheit und der Begriff der Freiheit wird zu dessen Voraussetzung.

Bemerkenswert ist, wie Orlando Patterson mit seinen Untersuchungen und seinen Fragen weit über den Bereich enger akademischer Wissenschaft wirkt und die Grenzen innerakademischer Fachdiskussionen überwindet. Vielfach sind Pattersons Forschungen und Thesen auch in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert worden. Er selbst gehört zu den profiliertesten Denkern in der amerikanischen Öffentlichkeit.

In seinem Werk stellt Patterson grundsätzliche Fragen zu Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit und hat damit die Entwicklung der Geisteswissenschaften entscheidend geprägt. Darin sieht die Jury eine Leistung, die es aufgrund ihrer außerordentlichen Eigenständigkeit und Güte verdient, mit dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart ausgezeichnet zu werden.

Quelle: Stadt Stuttgart